\( \def\Grad{\unicode{xb0}} \def\mdsu#1{^#1} \def\Iup{\unicode{x2643}} \def\Sat{\unicode{x2644}} \def\Pallas{\unicode{x26B4}} \def\Gmin#1{\unicode{x2032}} \def\Gsek#1{\unicode{x2033}} \def\Gter#1{\unicode{x2034}} \def\Ggrad#1{\unicode{x00B0}} \def\gevier{\unicode{x2014}} \)

      Göttingen, den 6. Januar 1819.

Sie haben mir wohl gezürnt, liebster Gerling, daß ich Ihr Verlangen, Ihre Abhandlung Ihnen noch im vorigen Jahre zurückzusenden, nicht erfüllt habe. Teils wünschte ich, Ihnen über die Polygone die nötige Auskunft zu geben, allein immer konnte ich dazu keine Muße gewinnen, indem besonders die praktischen Arbeiten fast alle Zeit absorbieren. Teils hoffte ich, Ihnen ein Exemplar meiner Vorlesung über die Attraktion elliptischer Ringe[1] beifügen zu können, welche auch manches andere Ihnen wohl Interessante enthält, z.B. die ersten Linien meiner arithmetisch-geometrischen Mittel; allein obgleich ich diese Vorlesung bereits vor einigen Wochen zur Korrektur gehabt, habe ich doch noch immer keine Abdrücke erhalten. Länger darf ich nun aber mit meiner Antwort nicht zögern.

Zuvörderst danke ich verbindlichst für die Mitteilung Ihres Aufsatzes, den ich mit vielem Vergnügen gelesen habe. Ihre Resultate sind merkwürdig, und ich wünsche sehr, daß Sie diese Versuche weiter fortsetzen mögen. 185

Ich glaube, daß Sie mit Unrecht die Theorie der Polygone in meinen D[isquisitiones] A[rithmeticae] scheuen und daß es nur auf den versuch ankommt, wo Sie gewiß alles sehr leicht finden werden. Wenn ich jetzt ein paar Stunden dazu anwende, über diesen Gegenstand zu schreiben, so geschicht es in der Hoffnung, daß eben das Lückenhafte, welches in meiner abgerissenen Darstellung der 17-Teilung, die ich hier gebe, bleiben muß, Sie anreizen wird, das Allgemeine an der Quelle zu schöpfen. Für mich wenigstens sind u[nd] bleiben die Unters[uchungen] der höheren Mathematik bei weitem das Allerschönste der Mathematik, und der Genuß, den ich auch an den schönsten astronomischen Untersuchungen finde, ist gar nichts, verglichen mit dem, welchen die höhere Arithmetik gewährt.

Bloß synthetisch beweisen läßt sich die Konstruktibilität des Siebzehneck sehr leicht und kurz. Es sei 360° = 17 $\phi $. Ich setze:

$$\cos \phi + \cos 4 \phi = a a+b = e$$

$$\cos 2 \phi + \cos 8 \phi = b c+d = f$$

$$\cos 3 \phi + \cos 5 \phi = c$$

$$\cos 6 \phi + \cos 7 \phi = d$$

Also nach einem bekannten Satze: $$ I)~ e+f = - \frac {1}{2} . $$ Durch leichte Entwicklung, mit der Überlegung, daß $$ \cos n\phi = \cos (17-n)\phi , $$ findet man:

$$ 2ab = e+f = - \frac {1}{2} , $$ $$ 2ac = 2a + b + d , $$ $$ 2ad = b + c + 2d , $$ $$ 2bc = a + 2c + d , $$ $$ 2bd = a + 2b + c , $$ $$ 2cd = e + f = - \frac {1}{2} , $$ Hieraus also $$ 2ac + 2ad + 2bc + 2bd = 4a + 4b + 4c + 4d $$ d.i. $$ 2ef = -2 \mathrm { . oder:} $$ $$ II)~ ef = -1 . $$

Man sieht also aus I u. II., daß $e$ u. $f$ Wurzeln der Gleichung $$ xx + \frac {1}{2} x - 1 = 0$$ 186 sind, also die eine $$ = - \frac {1}{4} + \sqrt {\frac {17}{16}} \, , $$ die andere $$ = - \frac {1}{4} - \sqrt {\frac {17}{16}} \, ; $$ daß die erste $= e$ die andere $= f$ ist, gibt eine oberflächliche Kenntnis der numerischen Werte; will man diese nicht benutzen, so ist die Unterscheidung altioris indaginis (besonders bei den Polygonen im allgemeinen ) u[nd] kann hier nicht entwickelt werden. S[iehe] m[eine] Abhand[lung] Summatio quarundam serierum singularium 1808 [2] .

Ferner sind $a$ und $b$ Wurzeln der Gleichung $xx - ex - \frac {1}{4} = 0$, also die Werte $$ \frac {1}{2} e \pm \sqrt {\left (\frac {1}{4} + \frac {1}{4} ee \right )} $$ $$ = - \frac {1}{8} + \frac {1}{8} \cdot \sqrt {17} \pm \frac {1}{8} \sqrt {(34 - 2 \sqrt {17})} \, ; $$ daß das obere Zeichen für $a$, das untere für $b$ gelten muß, ist in diesem Fall leicht einzusehen, da $$ a - b = (\cos \phi - \cos 2 \phi ) + (\cos 4 \phi - \cos 8 \phi )$$ offenbar positiv sein muß. Auf ähnliche Weise wird $$ c = - \frac {1}{8} - \frac {1}{8} \sqrt {17} + \frac {1}{8} \sqrt {(34 + 2 \sqrt {17})} $$ $$ d = - \frac {1}{8} - \frac {1}{8} \sqrt {17} - \frac {1}{8} \sqrt {(34 + 2 \sqrt {17})} \, .$$

Endlich sind nun offenbar cos $\phi $ und cos $4 \phi $ die Wurzeln der quadratischen Gleichung (weil das Produkt $\cos \phi \cdot \cos 4 \phi = - \frac {1}{2} c$) $$ [0 =] xx - ax + \frac {1}{2} c\, ; \mathrm {also} $$ $$ \cos \phi = +\frac {1}{2} a + \sqrt {\left (\frac {1}{4} aa - \frac {1}{2} c \right )} $$ $$ \cos 4\phi = +\frac {1}{2} a - \sqrt {\left (\frac {1}{4} aa - \frac {1}{2} c \right )} \, ; $$ 187 da nun $$ 2 aa= 2 + b + 2c$$ wird, so ist $$ \cos \phi = + \frac {1}{2} a + \sqrt {\left ( \frac {1}{4} + \frac {1}{8} b - \frac {1}{4} c \right )} $$ $$ = - \frac {1}{16} + \frac {1}{16} \sqrt {17} + \frac {1}{16} \sqrt {(34 - 2 \sqrt {17})} $$ $$ +\; \frac {1}{8} \sqrt {\left \{ 17 + 3 \sqrt {17} - \sqrt {\left (34 - 2 \sqrt {17}\right )} - 2 \sqrt {\left (34 + 2 \sqrt {17}\right )} \right \} } $$

Dies ist dieselbe Formel, die in meinen D[isquisitiones] A[rithmeticae] p. 662 steht, nur ist dort durch einen Druckfehler statt des $+$, welches hier mit bezeichnet ist, ein $-$ gesetzt, oder, was dasselbe ist, die dortige Formel stellt nicht cos $\phi $, sondern cos $4 \phi $, d.i. $\sin (\frac {90}{17})$° vor, also die doppelte Seite des 34-Ecks. $-$Die übrigen Cosinus bekommen ganz ähnliche Ausdrücke.

In den D. A. habe ich vorgezogen, statt der $\cos n \phi $ die Größe $\cos n \phi + \sqrt {-1} \cdot \sin n \phi $, d.i. die Wurzel der Gleichung $x^{17} - 1 = 0$ zu brauchen, wodurch alles viel zierlicher wird.

Die obige Darstellung ist an sich zureichend. Im allgemeinen, wenn es die Teilung des Kreises in $p$ Teile gilt, wo $p$ eine Primzahl, kommt es darauf an, die $\frac {p-1}{2}$ Cosinus der Bögen $\frac {360°}{p}$, $2 \cdot \frac {360°}{p}$, $3 \cdot \frac {360°}{p}$, $\ldots$, $ \frac {1}{2} (p-1) \cdot \frac {360°}{p}$ auf eine solche Weise in Gruppen zu teilen, daß ähnliche Erfolge hervorgehen wie hier, und dies heruht auf lediglich arithmetischen Prinzipien, die der 3. Abschn[itt] meiner Disq[uisitiones] enthält. Alles hängt dabei von den Faktoren der Zahl $\frac {1}{2} \cdot (p-1)$ ab; ist diese Zahl eine Potenz von 2, z.B. $p = 3$, 5, 17, 257, 65537, so kommen bloß quadratische Gleichungen vor; hingegen z.B. für $p = 31$, wo $\frac {1}{2} (p - 1) = 3 \cdot 5$, ist eine cubische u[nd] eine Gleichung vom 5. Grad unausweichlich. $-$

Das Geschichtliche jener Entdeckung ist bisher nirgends von mir öffentlich erwähnt, ich kann es aber sehr genau angeben. Der Tag war der 29. März 1796, und der Zufall hatte gar keinen Anteil daran. Schon früher war alles, was auf die Zerteilung der Wurzeln der Gleichung $\frac {x^p - 1}{x-1} = 0$ in zwei Gruppen sich bezieht, von mir gefunden, wovon der schöne Lehrsatz D.A. p. 637 unten abhängt, u[nd] zwar im Winter 1796 (meinem ersten Semester in Göttingen), 188 ohne daß ich den Tag aufgezeichnet hatte. Durch angestrengtes Nachdenken über den Zusammenhang aller Wurzeln untereinander nach arithmetischen Gründen glückte es mir, bei einem Ferienaufenthalt in Braunschweig am Morgen des gedachten Tages (ehe ich aus dem Bette aufgestanden war) diesen Zusammenhang auf das klarste anzuschauen, so daß ich die spezielle Anwendung auf das 17-Eck und die numerische Bestätigung auf der Stelle machen konnte. Freilich sind später viele andere Untersuchungen des 7. Abschn[ittes] der D. A. hinzugekommen. Ich kündigte diese Entdeckung in der „Jenaischen Literaturzeitung” an, wo mein Inserat ungefähr im Mai oder Juni 1796 abgedruckt sein wird[3] . Der Druck meiner Disq. A. fing im April 1798 an, ging langsam fort, wurde mehrere Male ganz unterbrochen (weil der Drucker von Braunschweig wegzog, daher von Bogen R an andere Schrift gebraucht ist), u[nd] wurde im Sommer 1801 vollendet.

Im Jahre 1798 oder 1799 kam ein gewisser Huguené oder Huguenot (ein preußischer Offizier) durch Braunschweig, dem v. Zimmermann[4] von meinen Untersuchungen erzählte. Auf seine Bitte teilte ich ihm einen kleinen Aufsatz, der die Theorie des 17-Ecks vollständig enthielt (ungefähr wie oben, aber viel ausführlicher) mit, den er behielt. Dieser Mensch soll sich nachher nicht entblödet haben, in einem Werke, das er hat drucken lassen, welches ich aber nicht selbst gesehen habe, diese Sache auf eine solche Art vorzutragen, daß der Leser glauben könnte, es sei des Huguenot eigene Arbeit! Unglücklicherweise aber soll dieses Buch sogar mehrere Jahre nach der Erscheinung meiner D. A. erst gedruckt sein, wodurch seine Unverschämtheit um so lächerlicher wird[5] . $-$189 übrigens darf ich Ihrer Diskretion und Ihrer Beurteilung vertrauen, falls Sie von dem Geschichtlichen irgend etwas zu erwähnen passend finden.

Über meine Beobachtungen ein andermal.

Den Zeitungsnachrichten über meine Reise nach Lüneburg werden Sie es angesehen haben, daß sie aus unzuverlässigen Quellen kommen. Das Wesen ist, daß ich bloß den Auftrag hatte, dort diejenigen Messungen zu machen, die nötig waren, den Anschluß an die Schumacherschen Dreiecke für eine eventuelle Fortsetzung durch das K[önig] R[eich] Hannover zu sichern, da die jenseitigen Punkte zum Teil vergänglicher Natur sind. Wie bald, ja ob überhaupt eine solche Fortsetzung ausgeführt werde, ist noch ganz unbestimmt. Ich habe mich begnügt, den vielfachen Nutzen davon eindringlich vorstellig zu machen. Allein ohne einen neuen Impuls möchte die Sache wohl vielleicht in Vergessenheit kommen, und ich kann und mag darum nicht weiter sollizitieren, obwohl ich, wenn die Arbeit mir aufgetragen wird, sie recht gern übernehme. Dieses alles natürlich ganz unter uns . Woltmanns Nachrichten über Schumachers Gradmessung in J. C. 1821 sehen Sie es gleich an, daß er von der Sache gar nicht unterrichtet ist. Soviel Wörter, soviel Unrichtigkeiten!

Leben Sie wohl, liebster Gerling, und erfreuen bald mit einigen Zeilen

Ihren ergebensten

C. F. G.

Soeben, indem ich das Paket absenden will, werden mir einige Abdrucke meiner Vorlesung überbracht; ich ergreife also die Gelegenheit, noch einen für Sie beizulegen.

1[Gemeint ist die Abhandlung: „Determinatio attractionis quam in punctum quodvis positionis datae exerceret planeta si eius massa per totam orbitam ratione temporis quo singulae partes deseribuntur uniformiter esset dispertita.” Sie erschien in den Comm. soc. reg. scient. Gott. rec. Bd. IV. Göttingen 1818, wiederabgedruckt in Gauß' Werken, Bd. III, S. 331-355. Gauß' Anzeige dieser Abhandlung findet sich in den Gött. Gel. Anz., Stück 24, vom 9. Februar 1818, Seite 233-237. Wiederabgedruckt in Gauß' Werken, Bd. III, Seite 357-360. ]
2[Comm. soc. reg. scient. Gott. rec. Bd. I, Göttingen 1811, wiederabgedruckt in Gauß' Werken, Bd. II, Seite 9-45. ]
3[Gauß' Anzeige erschien im Intelligenzblatt der allgem. Literaturzeitung Nr. 66 vom 1. Juni 1796 Seite 554. Die Notiz ist wiederabgedruckt in Gauß' Werken Bd. X, 1, Seite 3. Die Notiz ist die erste Veröffentlichung von Gauß. ]
4[Zimmermann, Eberhard August Wilhelm von; geb. 1743, gest. 1815; Prof. d. Math. am Carolinum zu Braunschweig, einer der Lehrer von Gauß. ]
5[Gemeint ist der frühere preuß. Offizier und spätere niederländische Generalmajor Ulrich von Huguenin (geb. 1755, gest. 1833), der im Jahre 1803 ein Buch veröffentlichte: „Mathematische Beiträge zur weitern Ausbildung angehender Geometer, Königsberg 1803.” In diesem findet sich auf Seite 283 folgende Anmerkung: "Daß das 17 Eck, durch quadratische Gleichungen, in einen Kreis beschrieben werden könne, entdeckte zuerst ein junger Geometer in Braunschweig, dessen Name, wie ich mich erinnere, Gaus ist: er machte solches einigen Gelehrten bekannt, und da dieses Verwunderung und vielleicht einigen Unglauben erregte, so gab er etwas über sein Verfahren an. Zu dieser Zeit (im J. 1796) befand ich mich in Braunschweig, wo ich solches nebst allem, was man von dieser unerwarteten Auflösung wußte, erfuhr, und hatte das Vergnügen, diese Spur verfolgend, seine eigene Anflösung in kurzer Zeit herauszubringen; die hier gegebene Auflösung aber ist meine eigene und gänzlich von jener verschieden; daher es mir frey stehen wird, diese als mein Eigenthum hier bekanntzumachen, indem ich die Herausgabe der ersten Anflösung, welche gänzlich trigonometrisch war, ihrem Erfinder selbst überlasse.” Diese Anmerkung bestätigt den obigen Gaußschen Bericht vollkommen, auch insofern, als in der Tat die Disquisitiones arithmeticae zwei Jahre früher (1801) erschienen sind. ]