Hochverehrtester Freund und Gönner!
Da ich durch das Rundschreiben der Königlich Preussischen Ordens-Commission vom 7. Junius d. J. aufgefordert bin, bis zum 14. d. M. ein consultatives Votum in Beziehung auf die Wiederverleihung des pour le mérite Ordens an die Stelle des verstorbenen Professors A. W. v. Schlegel abzugeben, so verfehle ich nicht, dazu
den Herrn Professor Dirichlet in Berlin in Vorschlag zu bringen.[1] Derselbe hat zwar meines Wissens noch gar kein grosses Werk publicirt, und auch seine einzelnen Abhandlungen füllen noch gerade kein grosses Volumen. Aber sie sind Juwele, und Juwele wägt man nicht mit der Krämerwaage.
Die Aufforderung injungirte zwar, die Vorschläge unabhängig von jeder Rücksicht abzugeben; allein aus dem Zusammenhange scheint doch zu folgen, daß damit zunächst gemeint ist, der neue Ritter könne ganz wohl einem ganz andern Fache angehören als der abgegangene. Sollte jene Injunction aber ganz buchstäblich genommen werden müssen, nemlich unabhängig von jeder Rücksicht, also auch von der, ob einige Aussicht sei, daß dem Vorschlage, wie ungewöhnlich er auch sei, Folge gegeben werden könne, so bekenne ich, daß mir die Wahl zwischen H[err]n Dirichlet und H[errn] Eisenstein schwer geworden sein würde, da die Arbeiten des letztern in vollem Masse dasselbe Prädicament[2] verdienen, wie die des erstern.[3] Ich habe aber geglaubt, dieses Bekenntnis jedenfalls hier aussprechen zu müssen, um damit diejenige Empfehlung,[4] mit welcher Sie den hochbegabten jungen Mann vor einem Jahr nach Göttingen begleiteten, jetzt zu erwidern.
Seit jenem Empfehlungsbriefe habe ich von Ihnen, mein verehrter Freund, keine directen Nachrichten gehabt, aber öfter in öffentlichen Blättern Ihrer grössern Reisen[5] erwähnt gefunden, woraus ich freudig auf Ihr fortwährendes Wohlbefinden geschlossen habe. Von mir kann ich nicht ganz dasselbe rühmen. Gern hätte ich die Reise nach Cambridge[6] gemacht, es hielt mich aber (freilich auch neben ändern Gründen) die Sorge um meine Ge89 sundheit davon ab, und ich freue mich jetzt dieser Verleugnung, da der heurige Sommer so furchtbar heiß ausfällt, daß er mir auch, wo ich zwischen meinen vier Pfählen bleiben darf, fast unerträglich wird. Das in der vergangenen Nacht hier eingetretene Gewitter scheint einige Linderung zur Folge zu haben. Weber hat, seitdem er 1843 Göttingen verlassen hat, mich schon oft, zuletzt vor einem Monat, mit einem Besuche erfreut.[7] Aber für seine verlorene herumirrende [?] Anwesenheit ist das kein Ersatz und meine Beschäftigungen mit dem mir früher so lieb gewordenen Zweige der Naturwissenschaften sind seit jener Zeit sehr beschränkt oder suspendirt.
Gegenwärtig bin ich ohnehin mit einer ganz heterogenen Arbeit beschäftigt, die für den Geist wenig Reizendes hat und einen sehr grossen Zeitaufwand erfordert, welchen ich aber doch gern bringe, da er sich auf ein wichtiges Institut der Universität[8] bezieht, der ich seit 38 Jahren meine äussere Stellung schuldig bin.
Bewahren Sie ferner freundliches Andenken
Ihrem
innigen Verehrer
C. F. Gauß
Göttingen, 9. Julius 1845
1[Nicht Dirichlet, sondern der Botaniker Link erhielt am 4.8.1845 den Orden. Dirichlet empfing die Auszeichnung erst am 10.8.1855 nach dem Tode von Gauß, hierbei wie in Göttingen dessen Nachfolger. ]