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      Potsdam, den 26. Oct. 1851

Verehrungswerther Freund und College! Ein uralter, jetzt 82jähriger Mann, dem Ihre Freundschaft und Ihr Wohlwollen von der Zeit an, wo Sie noch in Braunschweig Ihr erstes grosses Werk[1] schrieben, immer ein Lichtpunkt im Leben war, wendet nach langem Stillschweigen sich heute bittend an Sie. Der sehr arbeitsame und hoffnungsvolle Sohn[2] eines geistreichen Mannes, des kön. Leibarztes Schönlein,[3] ist von dem Wunsche beseelt, durch gründliche naturhistorische und physikalische Studien sich zu einer wissenschaftlichen Reise ausserhalb Europa vorzubereiten. Der sehr wohlhabende Vater, der zu den begabtesten Ärzten unseres Zeitalters gehört, unterstützt diese Neigung um so mehr, als er selbst eine 106 sehr grosse Vorliebe zur Experimentalphysik und chemischen Physiologie hat. Meine ganz gehorsamste Bitte geht nun dahin, daß Sie, theurer Freund, dem jungen Mann erlauben, sich in meinem Namen Ihnen vorzustellen. Er ist auf mein Anrathen von Eisenstein unterrichtet worden und wegen der vorhabenden Reise wäre es sehr zu wünschen, daß er praktisch eingeübt würde, astronomische Ortsbestimmungen mittels Sextanten zu machen (Stundenwinkel, correspon[dierende] Sonnenhöhen, Breitenbest[immungen] durch ☉ oder Sternculminationen, allenfalls Monddistanzen $-$alles in dem bescheidenen Masse, als es von einem für andere Zwecke reisenden gefordert werden darf). Meine lästige Bitte ist also, ob für den jungen Schönlein, unter Ihrem Schutze jetzt jemand in Göttingen zu finden wäre, dessen Musse es ihm erlaubte, einigen ganz praktischen Unterricht in Anwendung von Reflexions-Instrumenten zu geben, sich auch über Barometer-Messungen und magnetische Beobachtungen nachträglich zu unterhalten. Ich weiß aus Erfahrung, daß Selbstübung und Möglichkeit des Anfragens zu Hebung der Schwierigkeit das beste Mittel ist, zum Zweck zu gelangen. Entschuldigen Sie ja die Beschwerde, die ich errege. Sollte sich während des Universitätslebens Gelegenheit zum Einüben finden, so würde ich dem Vater rathen, von hier aus einen 4-5zölligen Spiegel-Sextanten und künstl. Horizont von Örtling oder[4] Pistor dem Sohne zu schicken. Es ist für Anfänger nützlich, immer mit demselben Instrumente zu operiren.

Der treffliche, sich überarbeitende Eisenstein, mit dem ich mich ununterbrochen und gern beschäftige, ist in elendem Gesundheitszustande, eine Kaltwasserkur brauchend in Berlin selbst, zu der ich weniger Vertrauen [habe], als er hat. Eine Brustkrankheit bedroht ihn und die so lange betriebene Anstellung als Professor ist bei der Eiskälte und Unwissenschaftlichkeit der jetzigen Oberbehörden in nicht theologischen Dingen (in solchen, die das Unglück haben, Finsternis zu zerstreuen) auch immer im Werden.

Meine Gesundheit erhält sich wundervoll durch Arbeitsamkeit, die nächtliche, denn die tägliche ist durch den traurigen Andrang, den die Nähe eines Königs[5] veranlaßt, über alle Maß en getrübt. Ich habe Himmel und Erde nicht in einem dritten Theil[6] zusammendrängen können und behalte demnach die Specialia, d. h. die Ausführung der tellurischen Theile des Naturgemäldes des 1. Bandes,[7] dem 4. Theile[8] vor. Es ist allerdings anmassende Unvorsicht in meinem praeadamitischen[9] unwahrscheinlichen Alter, von einem neuen Bande zu reden, aber ich habe Freunde, welche, im Fall des Ablebens, ausser dem Register den 4. Theil mit kleinen geognostischen, meteorologischen und pflanzengeographischen Arbeiten füllen würden. Ich corrigire so eben die letzten Bogen der 2. Abtheilung meines dritten ganz astronomischen Theils. Sie enthält: Nebelflecke, die Theile des Sonnengebiets, Haupt- und Nebenplaneten, Cometen, Thierkreislicht und das Problematische der Meteorsteine. Ich habe grosse Sorgfalt auf die Genauigkeit des Numerischen gewandt und bloß in dieser Hinsicht hat Galle mein Manuscript gesehen. Leider verlieren wir ihn, da er aus Liebe zu einer unabhängigen Stellung Bogusl[awski's] Professur und Direction einer elend ausgerüsteten Sternwarte[10] annimmt. Religiöser Trübsinn hat auf beklagenswerthe Weise in den letzten Jahren[11] bei Galle allzugroße Abgeschlossenheit veranlasst. Der talentvolle Rosenhain, welchen man eines unbeliebten, Jacobischen, etwas erhöhten Chromatismus[12] beschuldigte, hat den Preuss. Dienst verlassen. Ich habe ihn sehr warm, da ihn die ruhigere[13] Zeit entfärbt hat, an den Graf Leo Thun, den sehr gläubigen, aber politisch freigesinnten Öster[reichischen] Cultusminister empfohlen. Es sind ihm freundliche Versprechungen gemacht.[14] Ihre Nachsicht anflehend, werde ich Ihnen, verehrter Freund, so bald meine 2. Abtheilung erscheint, beide Abtheilungen in einen Band gebunden zusenden.[15] 107

Wie glücklich würde ich sein, wenn auch ich nur einige Äußerungen, die mich leiteten, von Ihnen lesen könnte, über[16] Faraday's mich quälende Entdeckungen,[17] seine theoretischen Ansichten, was er „magnetic power of oxygen but[18] only a conductive polarity”, §2933, 2822, 2835, nennt, verwirren mich. Wie denkt sich F[araday], daß die calotte d'oxygène, Sauerstoff-Umhüllung, nicht Pole annimmt durch Erdmagnetismus (source[19] of magnetic force p. 77) und doch den magnetischen Erdströmungen ihre Richtung anweist? „Oxygen is a magnetic medium of no small power”, §2791, ja mit Eisen verglichen (p. 47) von ungeheurem power. Ist das Endresultat des Ganzen etwa dieses: Oxygen wäre ein magnetisirbarer Körper, dessen Magnetisirbarkeit durch Verdünnung (Dilatation und Temperaturerhöhung ) geschwächt wird. Diese Fähigkeit ungleicher Magnetisirbarkeit, diese Ungleichheit und Einwirkung, welche die Sonne in ihrem scheinbaren Laufe ausübt, soll Richtung und Kraft modificiren. Es herrscht in dem allen eine unmathematische Dunkelheit in den Ideen und dem Ausdruck. $-$Die alte, schon von Gmelin [20] 1742 in Sibirien gemachte Beobachtung, die wir auf meiner nordasiatischen Expedition für den Russischen Kaiser[21] überall bestätigt gefunden haben, daß Magnetberge in der Natur ihres Gesteins nur da Polarität zeigen, wo sie an der Oberfläche im Contact mit der Atmosphäre gewesen sind, hängt mit diesen Betrachtungen zusammen. In Basaltbrüchen sind die im Inneren stehenden Basaltsäulen auch nicht polarisch. Möchten Sie doch einen Blick werfen können auf die sehr kleine Schrift: Dr. Zaddach, Privat-Docent in Königsberg, über magnetische Polarität des Basalts (Bonn 1851)[22] und einige Worte über Magnetica der Neu-Zeit für mich dictiren.[23]

Mit unwandelbarer Anhänglichkeit, Dankgefühl und Verehrung

Ihr

Al. Humboldt

Auch die Geschwindigkeit electr[ischer] Wirkung in[24] Fortleitung ist besonders bei der Erdleitung mir ganz unklar geworden. Verzeihung für die Ungeduld, die Ihnen die Unleserlichkeit meiner microscopischen Handschrift machen wird.

1[Gauß 1801. ]
2[Philipp Schönlein. ]
3[Johann Lucas Schönlein. ]
4[D irrt.: und (statt „oder”). ]
5[Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. ]
6[Humboldt 1845/62, 3. ]
7[Humboldt 1845/62, 1. ]
8[Humboldt 1845/62, 4. ]
9[Von Humboldt gern verwendete scherzhafte Anspielung auf sein hohes Alter; soll besagen, er stamme noch aus der Zeit vor Adam. ]
10[In Breslau. ]
11[Von „Religiöser Trübsinn” bis „letzten Jahren” in D ausgelassen, da Galle zur Zeit der Veröffentlichung lebte. ]
12[Färbung; hier für fortschrittliche, „rote” Einstellung benutzt. ]
13[D irrt.: ruhige (statt „ruhigere”). ]
14[Über Rosenhains Förderung durch Humboldt siehe Biermann 1959c, S. 102-103. ]
15[Humboldt 1845/62, 3, 1. Abt. (S. 1-310), war Mitte Dezember 1850 erschienen; die 2. Abt. (S. 311-645) kam ein Jahr danach in den Buchhandel. ]
16[D irrt.: aber (statt „über”). ]
17[Faraday 1851, und zwar enthält Ser. 25 die Abschnitte 2702 bis 2795, Ser. 26 die Abschnitte 2797 bis 2968. ]
18[D irrt.: ohne „but”. ]
19[D irrt.: power (statt „source”). ]
20[D irrt.: vor Parry (statt „von Gmelin”). ]
21[Nikolaus I. von Rußland. ]
22[Zaddach 1851 (Stevens 1863, Nr. 11035). ]
23[Dieser Bitte scheint Gauß nicht entsprochen zu haben. Sein Interesse an der Erforschung des Geomagnetismus war seit Webers Weggang von Göttingen stark zurückgegangen und wurde auch nach dessen Rückkehr (siehe Anm. 1 zu Brief 25) nicht wieder belebt. ]
24[D irrt.: und (statt „in”). ]