Paretz, im Havellande, den 18. Juni 1839
Ich muß fast besorgen, mein innigstverehrter Freund und College, in den bösen Verdacht der Undankbarkeit zu gerathen, wenn nicht eine auch Ihnen unerfreuliche Ursache mein auffallend langes Stillschweigen rechtfertigte. Meine Gesundheit, gewöhnlich wunderbar fest bei einem so mannichfach angestrengten Körper, war sehr gewichen seit einem arbeitsamen und langen Aufenthalte in Paris.[1] Ich habe besonders den halben April und ganzen Mai von anhaltendem Husten und Grippe (eine ziemlich sinnlose, systematische Bezeichnung des pathologischen x![2] ) gelitten. Erst seit 14 Tagen finde ich mich ganz wieder ermuthigt und ich befinde mich seit 4 Tagen mit meinem Könige in der ländlichen Einsamkeit des Havellandes (in Paretz).
Ich wollte Ihnen nicht eher meinen wärmsten Dank wie den Ausdruck meiner Bewunderung und Liebe darbringen, als bis ich recht frischen Geistes über das Gelingen einer Arbeit schreiben könnte, die zu den großartigsten und umfassendsten gehört, welche ich unter meinen Zeitgenossen erlebt.[3] Meine Freude über ein solches Gelingen entspricht der Anhänglichkeit, die ich für den Entdecker der wahren Theorie des Erdmagnetismus[4] (und einer Theorie, die unabhängig von allen besonderen Hypothesen über die Vertheilung der magnetischen Flüssigkeit in der Erdmasse ist) in meinem Busen bewahre. Was ich von dem tieferen algebraischen Zusammenhang nicht gleich verstand, hat mir Jacobi, mit dem ich selbst schriftlich darüber verhandelt und den ich stets bei meinem Aufenthalte in Potsdam besuche, zur Intuition gebracht.[5] Zuversicht und Glaube erleichtern die Einsicht und stärken das Fassungsvermögen. Die grossen Geister üben eine anziehende Kraft aus. Ihre „allgemeine Theorie” hat mich nun seit 6 Wochen fast ununterbrochen beschäftigt. Das Büchlein[6] ist mir überall gefolgt und ich lebe in der frohen Täuschung, daß ich die Theorie besitze, ja vollkommen verstehe, wie in derselben die Mittel liegen, eine Menge spezieller physikalischer Nebenfragen auf das gründlichste beantworten zu können. Siebenzigjährig im nächsten September versteinere ich langsam und (wie es sich für einen alten Geognosten geziemt) von den Extremitäten beginnend. Das Herz ist noch nicht erhärtet und schlägt mit erhöhter Wärme für den, der des Blitzes Helle in das geheimnisvolle Dunkel verwickelter Naturerscheinungen sendet. Wenn Lagrange über die ewige Vergleichung zwischen sich und dem Verfasser der Mécanique céleste[7] in menschlicher Anwandlung mißlaunisch wurde, so pflegte er mir zu sagen: „Man sieht klar nur durch ein ganz geöffnetes Thor. Le grand Géomètre sait[8] donner un seul coup et la porte est ouverte. Mr. Laplace donne successivement de petits coups: il en donne trois ou quatre. La porte ne cède qu'un peu et l'on voit mal ou rien par une porte à moitié ouverte!” Der Riesenschlag ist nun von Göttingen ausgegangen. Die Forderung von Lagrange ist erfüllt.
Ich habe, seitdem ich angefangen, mich, durch Borda angetrieben, mit magnetischen Beobachtungen zu beschäftigen,[9] zwei vage aber richtige Inspirationen gehabt: Haß gegen die Multiplication der magnetischen Erdpole und der Gabelung (Bifurcation) isogonischer Linien, groß e Vorliebe für die Messung der Intensität. Ich erkannte empirisch die Zunahme der totalen Intensität vom magnetischen Aequator gegen die magnetischen Pole hin; es ist ganz ungerecht und unhistorisch,[10] daß Sabine dies Erkennen dem Admiral De Rössel zu77 schreibt.[11] Dieser hat früher als ich schwingen lassen unter sehr verschiedenen Breiten, ist aber erst durch mich veranlasst worden, als ich von meiner Reise zurückkam, in seinen Manuscripten nachzusehen. Er hatte nicht einmal seine Beobachtungen publicirt, geschweige das Gesetzmässige darin erkannt.[12] Die Aufstellung der kleinen Magnete, die von Biot[13] aufgewärmte und modificirte Hypothese von Tobias Mayer, die schwerfälligen Versuche von Hansteen[14] waren mir zuwider: ich wünschte die goldene Zeit heran, wo ein newtonianischer Geist uns von den Fesseln gehäufter Epicykeln befreien und alle Elemente aus einem Princip herleiten würde. Dies Wunder haben Sie vollbracht, mein theurer, hochverehrter Freund: meine Augen haben es noch gesehen. Aus Ihrer Theorie habe ich nun erst einsehen gelernt, welchen Werth die horizontalen Schwingungen haben, wie unrecht ich hatte, sie ehemals nur in Verbindung mit Inclinationsbeobachtungen zu schätzen,[15] „weil, wenn nach einem halben Jahrhundert die horizontale Kraft an einem Orte verändert gefunden würde, man nicht wisse, ob die Veränderung Folge der abnehmenden totalen Intensität oder Folge der veränderten Inclination oder beider physicalischen Elemente zugleich sei.”[16] Aus Ihrem Buche ist mir nun klar geworden, wie, wenn die Beobachtungen zahlreich „und genau” genug wären, die Richtung der Horizontalnadel aus der blossen Horizontalintensität abgeleitet werden könnte. Das ist in der That die Blüthe der Sache, da durch ein solches Unternehmen die mathematische Verbindung, die zufolge des Attractionsgesetzes zwischen den drei Componenten statt finden muß, klar nachzuweisen ist. Aus Ihrem Buche habe ich erst ein richtiges Verständnis über die sogenannte magnetische Axe erhalten, wie über die Bedeutung der Pole ,[17] und die von der vierfachen unzertrennlichen sechsfachen Zahl![18] Die graphische Darstellung von $\frac {V}{R}$ hat[19] mich bei dem Empfang Ihrer vortrefflichen Schrift in grosse Verlegenheit gesetzt.[20] Ich sah bald ein, daß sie zwar von der grössten physikalischen Bedeutung sei, aber keine einfache Kraftäusserung darstellt. Wenn ein incompressibles[21] Fluidum einen magnetischen Kern umgäbe und man das Fluidum in viele Couches de niveau sich getheilt denkt, so würde die Resultante aller Kräfte in jedem Puncte senkrecht auf der durch ihn hindurchgehenden couche stehen. Die ganze Erde wäre dann ein Pol, überall wäre die Kraft vertical. Aber die wirkliche Erde durchschneidet ein System jener couches , $\frac {V}{R}$ ist das Bild der Schneidungscurven und zwei Pole bleiben nur als Berührungspuncte übrig. In den Zahlwerthen der 24 Coefficienten §26[22] und der schauderhaften Formel von 71 Gliedern, für die Sie Ihre sinnreichen Hülfstafeln construirt, [23] lieget demnach die ganze Frucht, ja auch der Samen und Keim zu allem, was die künftigen Jahrhunderte zur Verbesserung der numerischen Werthe von $\frac {V}{R}$ liefern werden. Wäre der Ausdruck für $\frac {V}{R}$ nicht jetzt schon der Wahrheit so nahe, so würde für die ausgewählten 91[24] Punkte[25] von so ungleicher Gültigkeit die Übereinstimmung zwischen Rechnung und Beobachtung nicht so bewundernswürdig zufriedenstellend sein. In dieser Übereinstimmung liegt der Lohn für eine so ungeheure numerische Arbeit. Ihre Beobachtungen, wie bei grösserer Vervollkommnung der Daten die Theorie selbst lehren wird, welcher Theil der Anziehung, welcher der Erde zugehört, hat meine größte Neugierde erregt. Aber wenn im Inneren des Erdkörpers eine Hitze herrscht, welche den Erdmagnetismus ausgleicht (vernichtet), wenn nur die obere Erdrinde magnetisch ist, so wird das wundersame Resultat von 78 einem Achtel Cubikmeter ( §31)[26] ja noch wundersamer, d. h. die Erde erscheint zwar noch anziehender, aber noch mehr im Verkehr mit atmosphärischen oder welträumlichen Einflüssen? ( §36 und 40).[27] Es wird mir eine grosse Beruhigung sein, wenn ich in den ferneren Entwickelungen Ihrer schönen Theorie künftig einmal etwas über Ihre Ansicht vom glühenden Erdkerne und dem ausschließlichen (?) Sitze der Kraft in der dünnen Erdrinde finde. Eine bedeutende Fraction des Ganzen kann ja dann wohl über der fingirten Fläche liegen. Was Brewster von Kältepolen und über Zusammenhang der magnetischen Linien mit meinen Isothermen aufgestellt[28] und Moser selbst numerisch zu entwickeln gewagt hat,[29] scheint mir unreif und voreilig. Schon der Urvater[30] Gilbert (da er die Tugend hatte, keinen magnetischen Kern oder Ring im Innern der Erde anzunehmen, sondern alle ihm bekannte Erscheinungen der Anziehung der Erde selbst zuzuschreiben) wollte die Richtung der Linien ohne Abweichung aus der Form der Continental-Massen erklären.[31] Bei Moser ist die Idee der Isogeothermen (deren numerische Evalvation[32] trotz Kupffer sehr im argen liegt, da die sogenannte Quellen-Wärme sehr täuscht[33] ) dazugekommen. Aber vieler anderer Einwendungen nicht zu gedenken, steht diesen Ideen entgegen 1) die geringe dünne Bedeckung mit den Wasserschichten des Ozeans, die verschieden geformten Continente sind ja nur Zapfen, Wülste, hervorragende Theile derselben Erdrinde; 2) die geringe Veränderlichkeit der mittleren Erd- und Lufttemperaturen, welche durch die Contouren der Continente (Gestaltung des Starren und ihr Oberflächen-Ansehen) bestimmt wird, während die Null-Declinations-Linie 1684 durch Paris und London fortschritt. Macht man die Lage[34] und das Fortschreiten der magnetischen Linien von der Vertheilung der Wärme allein abhängig, so muß man den periodischen Wechsel dieser Vertheilung erklären. Wenn aber die Wärme auch nicht das Hauptagens ist, so sehe ich doch mit Freuden aus Ihrer Theorie, mein verehrter Freund, daß vielerlei Modificationen der magnetischen Ladung von Aussen kommen können. Sommer und Winter, Tag und Nacht wirken periodisch, und wie gering ist doch (wenn man einen Blick auf Quetelets vollständigere Beobachtungen der inneren Erdwärme[35] zwischen 1-25 Fuß wirft) der Einfluss äusserer Temperatur-Veränderungen auf die obere Erdrinde, wie ungeheuer langsam die Mittheilung. Ohne Wärmeveränderung des Luftkreises haben mir immer (ein Declinations-Instrument steht neben meinem Arbeitszimmer) die hellen und bewölkten Tage den Total-Werth der täglichen Elongation zu vermehren und zu vermindern geschienen, während ich immer verwundert bin, daß trotz des unläugbaren Einflusses naher und ferner Nordlichter, Gewitter, Donnerschläge so wenig auffallende Veränderungen hervorbringen. Die Nordlichter oder magnetischen Gewitter, lichterzeugend wie die gemein elektrischen, sind also doch von diesen sehr, verschieden.36 Sie sagen sehr schön ( §41), daß jede Bewegung der Electricität deshalb nicht ein galvanischer Strom ist, weil zu diesem ein in sich zurückkehrender Kreislauf gehört![39] Die augenblicklichen Stöhrungen, die der Parallelismus Ihrer Curven als gleichzeitig und so all79 gemein verbreitet offenbaret, glaube ich wie Sie, als von aussen und oben herab erzeugt. Ist es ein meteorologischer Prozeß, den das Durchfahren eines Aerolithen erregt, fragt Admiral Wrangel? Wohl deshalb nicht, weil sonst unsere Nadel bei Tag und Nacht nie ruhig sein könnte! Wrangel sagt, eine Sternschnuppe (ein Aerolith) eigener Art. Das grenzt an das Gebiet der wilden Hypothesen.40 Da ich Herrn Fedorow für einen weit bedächtigeren Beobachter als Adolph Erman[42] halte, so haben mich Ihre Seite 40 und 41[43] wegen der Übereinstimmung mit meinen eigenen Beobachtungen trotz der Jahresunterschiede von 1829 und 1832 sehr gefreut. Dieser sibirische Reisende[44] (jetzt im untergegangenen Kiew[45] ) hat sich, wie mit Recht, für Sie gezähmter erwiesen als für mich. Ich schreibe ihm seit 3 Jahren, um ihn für die neue Ausgabe meiner Fragmens asiatiques,[46] die als ein neues ganz umgeändertes Buch (Asie centrale)[47] erscheint, anzuflehen, mir gewisse Berghöhen des Ural, die er gemessen, zu schicken, er hat mich aber nie einer Antwort gewürdigt.[48] Die neue magnet[ische] Expedition der Engländer und Stationen mit Ihren Reflexionsinstrumenten dem magnet[ischen] Aequator nahe, werden Ihre großartige Theorie sehr fördern, besonders für die wichtige Frage §41[49] . Da Gleichzeitigkeit in der Bestimmung der Curven so wichtig ist, so wünschte ich freilich, daß ein Schiff nördlich vom Aequator und eines südlich vom Aequator (aber in beiden Meeren im Atlantischen Ozean und in der Südsee) kreuzten!
Verzeihen Sie innigst, verehrter Gönner und Freund, das rhapsodische dieser Zeilen. Ich habe nicht Zeit und Muth, dieselben zu übermalen (de les retoucher). Der vortreffliche Weber oder unser geduldreicher Dr. Goldschmidt werden in der hieroglyphischen Entzifferung ja wohl beistehen.
Nun noch gemischte Betrachtungen. Es quält mich, daß in Ihrer Karte $\frac {V}{R}$ die Null-Linie dem magnetischen Aequator (der 0-Incl.) so ähnlich ist und doch dieser Aequator nicht ist! Wie werden Erman und Hansteen sich helfen mit ihren Sibirischen Schlangenlinien, wenn Sie ihnen die 4 Pole entziehen? Was ist das Fortschreiten der 0-Decl.-Linien? Was wird aus den unmöglichen Bifurcationen und aus einem gewissen mich kränkenden in sich zurücklaufen der Decl.-Linien in der Südsee?
Mit dankbarer Verehrung Ihr
Al. Humboldt
Meine freundlichsten Grüsse an Weber und Goldschmidt und Ottfried Müller. Ich denke mit Wehmuth an unsere Göttinger, auch an meine alma mater! Ich hoffe, daß Sie die besten Nachrichten von der liebenswürdigen Professorin Ewald und ihrem Gatten haben.
Mit Encke lebe ich in alter Zärtlichkeit, traurend über den nordischen Krieg.[50] Jacobi ist geistreich, lebendig und fett. Dirichlet ist mehr in sich gezogen, fein und liebenswürdiger.
1[Siehe Anm. 2 zu Brief 29. ]