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      Berlin, den 30. Sept. 1837

Wenn auch nur in flüchtigen Zeilen, kann ich mir doch die Freude nicht versagen, Ihnen, theurer hochverehrter Freund, vorläufig den Ausdruck meiner innigsten Dankgefühle für die auf Ihrer Sternwarte verlebten schönen Tage darzubringen.[1] Sie sind mir nicht bloß, wie immer, geistig groß und alles, was Sie kühn und tief angreifen, beherrschend erschienen: Sie waren auch voll Milde und Herzlichkeit und Wärme des Charakters,[2] Züge, die Ihnen den so gelungenen, anmuthigen, sinnigen Eingang Ihrer Societätsrede inspirirt haben.[3] Es ist etwas Grosses im Leben, so dem Grossen seiner Zeit haben nahe treten zu können. Ich war zwei Tage in Hannover, wo ich alle Minister, Hofleute und Gesandten besucht; mit besonderer Freude aber die noch immer geistig muntere Miss Herschel, der mein Besuch viel Freude zu machen schien, weil ich von Ihnen kam. Sie hatte eben als ein Geschenk für den Neffen[4] bei der Rückkunft ein 7füssiges Telescop zusammensetzen lassen, zu dem ihr alle optischen Theile noch der grosse Bruder[5] vermacht. Sie zeigte mir Briefe vom Cap[6] mit Zeichnungen (Configurationen des Saturn), da der Neffe zwei ganze Nächte hindurch 6 Trabanten gesehen. Zum 7. scheint er kein Vertrauen zu haben, wenigstens verstand mit einigem Ärger Miss Herschel so den Ausruf: the 7th I shall never seen[!].[7] Sie leidet keine Ungewißheit. Bei ihrem astronomischen Interesse hat sie auch glücklicher Weise einige weibliche Tendenzen: sie quält sich mit der Ungewiß heit, ob der König sie im Winter zu 60 einem Hofconcert einladen wird, wie der Vicekönig[8] regelmässig that! Der König Ernst hat mich sehr wohlwollend empfangen und mir eine Audienz einer vollen Stunde gegeben. Er rühmt noch immer alles, was er in Göttingen gesehen, „artigere junge Leute wären ihm noch nicht vorgekommen”. Ich konnte nicht am Hofe essen, da wegen der Nachricht von dem Hinscheiden des Herzogs Carl der König sich ganz zurückgezogen und mehrere Tage auf seinem Zimmer speiste. Die Königin war vor Schreck bettlägrig. Der Kronprinz ist in seinen physischen Kräften sehr gestärkt.[9] Da er leidenschaftlich Musik liebt, so war er mit Weber's schönen akustischen Versuchen, von denen er gehört, beschäftigt. Encke ist bei der Aufstellung seines endlich vollendeten Pistorschen Meridian-Kreises. Ich habe mit seinem Rathe den Termin für die Sternschnuppen (nach Ihrem Wunsche,[10] theurer Freund) in der Staats-Zeitung[11] angekündigt. Es konnte, wenn man nur ein mal 25 St[unden] ansetzt, einiger Zweifel wegen des Tages sein: wir haben nach reiflicher Vergleichung gewählt:

vom 13. November Mittags bis 14. November Mittags. Wer viel Musse hat, mag auch oft die Nadel ansehen in der Nacht vom 12. zum 13. und vom 14. zum 15. Denn entweder rücket der Knoten oder es ist eine breite Zone. Vielleicht interessiren Sie folgende sichere Daten aus meinen Papieren:

Nacht 11.-12. Nov. 1799 Cumaná, Labrador, Brasilien (Humb. Rel. hist., I, 519. 4to ).[12]

12.-13. Nov. 1822 Potsdam. Poggend[orff], B[d]. II, p. 219.[13]

12.-13. Nov. 1832 Europa, Arabien, Orenburg, Pogg[endorff], B[d]. 29, p. 447.[14]

12.-13. Nov. 1833 Ganz Amerika. Pogg., B[d]. 33, p. 129 und 189-214.[15]

13.-14. Nov. 1834 Ganz Amerika wieder Prof. Olmsted Pogg., B[d]. 34, p. 129.[16]

13.-14. Nov. 1835 Frankreich.

14.-15. Nov.? 1835 Herschel, Cap.

13.-14. Nov. 1836 Deutschland, aber in Frankreich glaubte man, der stärkste Fall sei gewesen Nacht 12.-13. November.

Darf ich Sie gehorsamst bitten, dem theuren Weber zu sagen, wie sehr ich von der Aufopferung gerührt war, mit der er mich in Göttingen gepflegt. Mit inniger Verehrung und Dankbarkeit

Ihr

Al. Humboldt

Ich muß heute schon mit dem König nach Potsdam. Viele, viele Grüsse an Herrn von Sartorius, Dr. Listing und Dr. Goldschmidt. Daß ersterer ja seine uns theure Gesundheit schont![17]

Meine innige Verehrung Ihren zwei liebenswürdigen Töchtern und an H[err]n Prof. Ewald,[18] der schon meinem Bruder so theuer war. Zu der philologischen wandernden Gesellschaft, deren Vorsitz ich soll, laut den Zeitungen, geführt haben, wird niemand kommen, als die zunächst um Nürnberg wohnenden.[19]

Der 2te grosse periodische Sternschnuppenfall ist in der ersten Hälfte des August,

14.-15. August zwei Jahre hinter einander 1826 und 1827 beobachtet zu Rom.

10.-11. August 1837 Paris.

Aber! leider wissen wir noch gar nicht, was viel Sternschnuppen heisst? Wir wissen nicht, wie viele im Mittel mehrere Monathe in einer nächtlichen Stunde am ganzen sichtbaren 61 Himmels-Gewölbe fallen? Über Phaenomene wie die vom 11.-12. Nov. 1799, 12.-13. Nov. 1833 und 13.-14. Nov. 1834, die wie Feuerwerke ganze Populationen aufregen,[20] kann allerdings kein Zweifel bleiben, aber so waren die anderen Fälle nicht. Sie sehen aus der Länge meines Briefes, daß die Sternschnuppen mich Benzenbergisch[21] langweilig machen.

1[Nachdem Gauß am 2.9.1837 an Olbers geschrieben hatte: „Humboldt wird auch herkommen; möchte er nur seine Anwesenheit etwas über das Jubiläum hinaus ausdehnen, da während desselben und vorher so viel Zerstreuendes ist, daß ich ihn wenig würde geniessen können”, äuß erte er sich am 26. Sept. nach Humboldts Abreise: „Humboldt sah ich alle Tage bei mir, meistens jeden Tag mehrere Male [$\ldots$] Ich habe seine Rüstigkeit bewundert.” (Olbers 1900/09, 2, S. 650 bzw. 652.) Humboldt war neun Tage in Göttingen (15.-23. Sept.); seinem Verleger Gide jr. gegenüber hob er am 28.9.1837 seine magnetischen Beobachtungen mit Gauß hervor, der die größ ten Meß instrumente besäß e, die es derzeit in Europa gäbe (Stargardt 1939, Nr. 208). In einem Brief an Schumacher vom 20.10.1837 bewunderte Gauß Humboldts Rüstigkeit und antwortete auf eine entsprechende Frage, von Berufungsabsichten nach Berlin sei nicht die Rede gewesen (Peters 1860/65, 3, S. 181 u. 182). Während Humboldts Anwesenheit erhielt Gauß den Orden der französischen Ehrenlegion und ließ sich von ihm über die Formalitäten der Danksagung belehren (Gauß an Schumacher. 6.7.1840 und 19.6.1842. Peters 1860/65, 3, S. 385, bzw. 4, S. 77). ]
2[In teilweisem Gegensatz hierzu steht folgende briefliche Mitteilung Humboldts an Bessel vom 12.10.1837: „Gauß hat mich allerdings auf das Liebevollste behandelt, aber es war mir doch im Ganzen oft unheimlich, ihn so toto animo in den magnetischen Dräthen verstrickt zu sehen. Der Erfolg scheint mir bisher nicht dem Aufwand solcher Kräfte proportional, dazu sind so viele Dinge mir in grösserem Maß stabe ausgeführt, die wir im kleineren kannten. Das Hauptübel ist die völlige Vernachlässigung der stündlichen Inclinations-Versuche. Die horiz[ontale] Kraft ist allerdings sehr leicht mit bewundernswürdiger Genauigkeit zu messen, aber wenn man sie nach 50 Jahren irgendwo anders findet, weiß man ja nicht, ob die Intensität (die wahre, ganze) oder die Incl[ination] sich geändert hat. Es ist die mittlere jährliche Barometerhöhe ohne Angabe der Temper[atur], wie Sternhöhen ohne Bar[ometer] und Therm[ometer]. Wenn man dergleichen aber in Gött[ingen] äussert, wird man etwas härtlich behandelt. Das astron[omische] Interesse ist dort ganz verschwunden und, was bei einem so grossen Geiste sonderbar ist (so im Widerspruch mit Ihrem inneren Wesen!), es ist in Gauß eine geflissentliche Isolirung auf einen Gegenstand, die das Feld der Ideen beengt, für alles andere erkältet $\ldots$Eine solche willkührliche Isolirung (gleichsam Verarmung) hat auch zur Folge, daß die Besitznahme eines kleinen Raumes ausschließ end legitim erscheint, daß alles von anderen früher gefundene urplötzlich ein Teil des Besitzstandes wird. Daher ist bei einer freien beweglichen Natur wie die meinige das Zusammenleben mit Gauß nicht so leicht als man wünschte.” (Biermann 1963a, S. 221.) Sicher hat der Besuch in Göttingen zur weiteren Annäherung und zur Überwindung der zeitweiligen Entfremdung beigetragen, aber Humboldt hatte noch immer nicht ganz verwunden, daß Gauß sich ein Gebiet in kürzester Zeit theoretisch und praktisch unterworfen hatte, das er selbst seit Jahrzehnten als seine Domäne betrachtete. Es ist weiter ersichtlich, daß es ihm, dem Vielseitigen und stets gleichzeitig an mehreren literarisch-wissenschaftlichen Vorhaben Arbeitenden, an tieferem Verständnis für die Gauß sche Konzentration auf eine Hauptaufgabe mangelte und daß er irrtümlicherweise annahm, Gauß wende nicht die nötige Aufmerksamkeit an die Inklination. Wie einem Brief von Encke an Gauß vom 14.9.1834 zu entnehmen ist, hatte Humboldt schon damals die Befürchtung, Gauß werde über der Horizontalintensität die Inklination vernachlässigen. Gauß war jedoch bereits im Besitz von Theoremen, die die Beschränkung auf die Bestimmung der Horizontalkomponente der magnetischen Erdkraft und der Deklination rechtfertigen. (Hierzu und hinsichtlich der Reaktion von Gauß auf die Humboldtschen Einwendungen siehe Schaefer 1929, S. 44, Anm. 1, und S. 84.) Erst allmählich gelangte Humboldt zu vorbehaltloser Bewunderung. ]
3[Von dieser Sitzung der Göttinger Sozietät (späteren Akademie) der Wissenschaften am 19.9.1837 berichtet Graf Reinhard, der französische Diplomat und bekannte Korrespondent Goethes: „An der Seite des Präsidenten, Prof. Gauß, saß Alexander von Humboldt, zu dessen, wo nicht Ehren, doch Unterhaltung, die Sitzung eigentlich berechnet schien, weil die Beschreibung eines Instruments für Bestimmung der Intensität des Erdmagnetismus, von Gauß nach Humboldts Anregungen erfunden [!] und seit wenigen Tagen für Experimente benützt, unverständlich für den Augenblick auch dem erfahrensten Kenner, sie fast ganz ausfüllte.” Am folgenden Tage waren Graf Reinhard und andere Gäste im „Observatorium, wo wir eine Demonstration des Prof. Gauß an Alexander von Humboldt, im Angesicht des sonderbaren Instruments, unterbrachen und als Laien uns zurückzogen, ehe noch die Schwingungen begannen.” (Lang 1896, S. 559.) Gauß ' Rede: Gauß 1838. ]
4[Sir John Herschel. ]
5[Wilhelm (William) Herschel. ]
6[Sir John Herschel weilte von 1834 bis 1838 am Kap der Guten Hoffnung zu Beobachtungen des Südhimmels. ]
7[Damals waren erst 7 Saturnmonde entdeckt. ]
8[Der Herzog Adolphus Frederick von Cambridge war Vizekönig von Hannover, bis 1837 die Krone von England auf die weibliche Linie überging, die Personalunion mit Hannover wegfiel, und sein älterer Bruder Ernst August König von Hannover wurde. ]
9[Die Erblindung des späteren Georg V. von Hannover wurde verheimlicht. ]
10[Gauß meinte, Humboldt einen Gefallen damit zu tun, wenn er den November-Termin für die Beobachtung des Erdmagnetismus vorzog, um zu prüfen, ob zur Zeit der Sternschnuppenfälle bedeutende magnetische Bewegungen vorkämen (Gauß an Möbius, 29.9.1837, Neumann 1879, S. 64). Offenbar war die Angelegenheit während des Besuchs von Humboldt in Göttingen besprochen worden. $-$Wie Humboldt so war z. B. auch Olbers sehr an dem Zusammenhang zwischen Sternschnuppen und magnetischen Perturbationen interessiert (Olbers an Gauß , 14.10.1837, Olbers 1900/09, 2, S. 654). ]
11[Humboldt 1837. ]
12[Humboldt 1814/25, 1. ]
13[Klöden 1824. ]
14[Erman 1833. ]
15[Poggendorf 1834; jedoch auf S. 129 keine einschlägige Mitteilung. ]
16[Poggendorf 1835. ]
17[Sartorius, Ende 1836 vor der Rückkehr nach Göttingen auf Sizilien, wo er mit Listing zur Untersuchung und Vermessung des Ätna und zu geomagnetischen Messungen geweilt hatte, schwer erkrankt, war wohl noch nicht wieder völlig genesen (Listing 1967, S. 20-21). ]
18[Gauß' Schwiegersohn. ]
19[Humboldt hatte am 20.9.1837 während seines Aufenthaltes in Göttingen an der Gründungsversammlung eines Philologen-Vereins teilgenommen. An späteren Veranstaltungen dieser Vereinigung hat sich Humboldt nicht beteiligt. ]
20[Humboldt hatte mit seinem Begleiter Bonpland den großen Sternschnuppenfall in der Nacht vom 11. zum 12.11.1799 in Cumaná (Venezuela) und die Aufregung der dortigen Bevölkerung selbst miterlebt. ]
21[Mit Benzenberg, der sich viel mit Sternschnuppen befaßt hat, war Gauß seit seiner Göttinger Studentenzeit bekannt und korrespondierte mit ihm. ]