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Ich darf es nicht wagen, mich vor Ihnen zu rechtfertigen, mein theurer, hochverehrter Freund. Meine Schuld ist groß und weder die zunehmenden rheumatischen Leiden meines 43 rechten Arms,[1] noch der Wunsch, rechte Musse zu finden, um Ihnen ausführlich zu schreiben und Sie lebhaft fühlen zu lassen, welche Bewunderung die von Ihnen für den Magnetismus neu[2] eröffnete Bahn in mir erregt hat und wie diese Bewunderung sich (weil Sie der Gegenstand derselben sind) an die fröhlichsten Erinnerungen der in Ihrer Nähe vollbrachten Tage anreiht, können mein langes Stillschweigen auf die Beweise Ihres Wohlwollens entschuldigen. Es bleibt mir also nur übrig, Ihre Großmuth in Anspruch zu nehmen. Wer so hoch als Sie steht, ist leicht zur Nachsicht in den schwach-menschlichen Dingen geneigt. Um mich nun aber selbst in Ihren Augen wieder etwas zu heben, will ich zugleich aber auch von meinen Verdiensten reden, ja von Verdiensten, die bei meiner lahmen Hand Sie anerkennen müssen.

Ihre Anzeige der Entdeckung, die Intensität auf ein bestimmtes Maß zu reduciren, hat mich dergestalt erfreut, daß ich (sobald ich gewiß war, von der Methode recht durchgedrungen zu sein) mich selbst an das Übersetzen gemacht habe.[3] Obgleich unsere deutschen Zeitungen uns periodisch mit der Idee schmeicheln, daß unsere vaterländische Sprache in dem grossen Babylon[4] wuchere, so hat mich ein 20jähriger Aufenthalt fast das Gegentheil gelehrt. Die Fortschritte im Institut sind nicht die, welche man hie und da in dem elenden dramatischen Wuste bemerken kann. In dem Institute ist fast alles verloren, was man deutsch ohne Auszug und Erläuterung einsendet. Meine Übersetzung ist mit Encke durchdisputirt worden, denn bei der edeln Concision[5] Ihres Styls, ist es immer zuletzt leicht, den anfangs aufstossenden Zweifel zu lösen. Dann habe ich (da ist nun mein Verdienst)[6] das Ganze noch einmal abgeschrieben und etwas leserlicher als diese Zeilen, und mit einem erläuternden Briefe über das Vielumfassende Ihres Unternehmens an Arago, dem Institute,[7] übersandt. Die Sendung ist (wie Ihnen unser Freund Encke wird schon gemeldet haben) etwa 10-12 Tage nach dem Empfang Ihrer Arbeit von hier abgegangen. Wenn wir in den Zeitungen von Paris her seitdem noch nichts darüber gehört, so liegt dies wohl an Arago's Abwesenheit, der Anfang Januars alle Jahre auf 2 bis 3 Wochen nach Metz geht zum Examen der polytechnischen Schüler auf der École d'application du Génie et de l'Artillerie. Die Übereinstimmung Ihrer Beobachtungen unter einander werden überall Bewunderung erregen und doch sind sie wohl noch nicht von den Wirkungen der Wärme und der veränderten Inclination befreit. Da ich über die stündlichen Veränderungen der Inclination und Intensität selbst in „Poggendorff” vor meiner Abreise nach Sibirien etwas bekannt gemacht,[8] so ist es Ihnen, Verehrtester, vielleicht angenehm, wenn ich Ihnen aus einem alten Briefe von Arago an mich (Paris,[9] 13. Dec. 1827) etwas über die Pariser Epoche abschreibe: „en reprenant[10] par une nouvelle méthode les observations diurnes d'Inclinaison, dont tu m'avois vu occupé, j'ai trouvé, non pas seulement par des moyennes mais chaque jour , une variation régulière. L'inclinaison est plus grande le matin à 9h que le soir à 6h . Tu sais que l'intensité, mesurée avec une aiguille horizontale , est au contraire[11] à son minimum à la première époque et qu'elle atteint son maximum entre 6h et 7h du soir. La variation totale étant très petite, on pouvoit supposer, qu'elle n'étoit due qu'au seul changement d'inclinaison et en effet la plus grande portion de la variation apparente d'intensité dépend de l'alteration diurne de la composante horizontale; mais toute correction faite, il reste cependant une petite quantité comme indice d'une variation réelle d'intensité. ” Die Methode, welche Arago anwendet, um die Veränderungen der Inclination zu messen, ist diese. An die untere Spitze der Gambey'schen Nadel wird ein dünner Glasfaden geklebt. Das Instrument überlässt man sich selbst und richtet ein kleines Fernrohr zugleich auf Faden und Eintheilung, so daß man dann einzelne Minuten schätzen kann.[12] Sie, mein edler Freund, 44 haben alles zugleich mit neuen Mitteln ergriffen und der ganze Magnetismus verdankt Ihrem Geiste eine Revolution. Auch über das Streichen[13] sehe ich in Ihrem ersten[14] so wohlwollenden, von einer Schrift begleitendem [!] Schreiben, die wie so vieles über meinem (deprimirten) Horizonte liegt, mir[15] ganz neue Dinge. Die von Kupffer so verschiedentlich gegebenen Temperatur-Correctionen und die absolute Bestimmung der Inclination liegen ganz im Argen und harren Ihres wohlthätigen Lichtes. Der Uebergang von hohen Temperaturen (50°-60° R.) zu niedrigen $+5$° oder[16] $-8$° R. befolgt eigene[17] Curven der Intensitätszunahme und bisher hat man, wie mir es scheint, sehr unglücklich geschlossen von Versuchen bei 60° auf die Temperaturen, bei denen wir arbeiten 5°-20° R. Bei der Inclinat[ion] beunruhigen mich die Erfahrungen mit scheinbar ganz gleich vollkommen gearbeiteten Gambey'schen Nadeln. Ich besaß sonst welche, bei denen es mir glückte, nach Anwendung aller Correctionen durch 2 Nadeln Resultate zu erlangen, die nicht um eine Bogenminute differirten. Jetzt habe ich in Paris eben so schöne Gambey'sche Nadeln gesehen, deren 2 keine Übereinstimmung von 4-5-6 Minuten gab[en], ein Gräuel, wenn man die so langsam mit den Jahren abnehmende Inclination untersuchen will. Sollte der Grund allein darin[18] liegen, daß bei Umkehrung der Pole man eine andere Kraft (Intensität) erhält? Ihr bereits mit so schönem Erfolge gekröntes Unternehmen befriedigt meine Eitelkeit auf eine sehr individuelle Weise. Ich träume, daß meine Bitten, die Versuche, die Sie in meinem Hause mit Auffindung der Incl[ination] durch 3 oder[19] 6 Extra-Meridian-Beobachtungen machten, mitgewirkt haben zu dem Entschlusse, diesen verworrenen Theil der Physik aufzuklären.[20] Die von Ihnen bekannt gemachte jetzige Inclination von Göttingen (an ganz freiem Orte?) scheint auch wieder die sonderbare Anomalie der bei Ihnen so langsamen Abnahme der Incl[ination] zu confirmiren (meine Relat. histor. in 4to , T. III, p. 625).[21] Sie erinnern sich, daß in Göttingen Incl[ination] war Dec. [vielmehr: Nov.] 1805 $-$69° 29$\Gmin{}$ und Sept. 1826 $-$68° 29$\Gmin{}$ 26$\Gsek{}$ (eine Nadel 68° 30$\Gmin{}$ 7$\Gsek{}$ die andere 68° 28$\Gmin{}$ 15$\Gsek{}$[22] mit Ihnen). In Paris war Abnahme von 1798-1810 jährlich 5$\Gmin{}$, aber nur 3$\Gmin{}$,3 von 1810 bis 1825. Doch ich ermüde Ihre Geduld.

Clausens neuer Fund hat mich sehr erfreut.[23] Weil eine Entdeckung immer eine andere herbeiführt, weil man besser sucht und weiß, was man finden kann. So war es mit den Aerolithen, mit den kleinen (Taschen-)Planeten[24] , mit den Comètes à courtes periodes. Aber das hemmende Fluidum[25] scheint mir das grösste[26] physikalische Räthsel und sein Dasein ist doch wohl nothwendig anzunehmen. Sollte der vielleicht zwischen Venus und Mars schwebende Ring des Zodiakalscheins, den wir durchkreuzen, dasselbe Fluidum, verdichtet und selbstleuchtend, sein? Sollten Cometen, wenn sie diesen Ring, um dessen Grenzen und Lage man sich so wenig kümmert, durchwandeln, auch von ihm nicht gehemmt werden? Auch die begrenzte und unbegrenzte irdische Atmosphäre ist ein Übel, an dem unsere Physik erkrankt.[27] Und doch beweiset, denke ich, die so wunderbar erhöhte Intensität der Crepuscula[28] 1831, wo man von Irkutz [sic!] bis Berlin bei Nacht lesen konnte, daß in den Schichten, wo Barometer-Druck 0lin , 00001[29] ist, auch noch meteorol[ogische] Veränderungen vorgehen. Lichterscheinungen und Widerstand sind ja die einzigen Zeichen, die uns an das Dasein solcher Weltfluiden können glauben lassen!

Ich habe mehrere Tage hier, unter den zeitraubendsten Zerstreuungen des Hoflebens, mit Ihrem heitern und guten Herzog von Cambridge zugebracht und, da der Magnetismus bei mir eine seit 40 Jahren eingebürgerte Krankheit ist, ihm einen Begriff von Ihren Entdeckungen gegeben. Ich habe mich gefreut zu erfahren, wie er weiß, was er an Ihnen, Theurer, besitzt. „Man schreit oft”, sagt er in seiner lebendigen Art sich auszudrücken, 45 „gegen Göttingen, so lange wir die Bibliothek und Gauß besitzen, können wir schimpfen lassen.” „Ich bin einverstanden, aber meine Pflicht ist es, Ew. kön. Hoheit zu bitten, die Rangordnung der Schätze umzukehren und den ersten Mathematiker unseres Zeitalters, den grossen Astronomen, den geistreichen Physiker zuerst zu nennen.” Der Herzog bittet mich, seines Alters wegen zu verheimlichen, daß wir 1790!! zugleich in Göttingen studirt.[30]

Mit dankbarer Verehrung und nochmaliger Bitte, dem Freunde nicht zu schmähen

Ihr

Al. Humboldt

Berlin, den 17. Febr. 1833

Meine freundlichsten Grüsse Herrn Prof. Weber, den ich um Ihre Nähe beneide.

1[Humboldt hat verschiedene Gründe für die „Unleserlichkeit” seiner Schrift angegeben; meist führte er sie auf eine rheumatische Lähmung seines rechten Arms als Folge des Lagerns auf feuchten Blättern während seiner amerikanischen Reise zurück, wodurch er gezwungen war, das Papier beim Schreiben auf die Knie zu legen, und woraus die Schiefe der Zeilen (von links unten nach rechts oben mit immer weiterem Einrücken des Zeilenanfangs nach rechts) herrührt. Gelegentlich gab er aber als Ursache auch das Fehlen von Linien auf dem Schreibpapier oder die Eile an, in der er seine Ausführungen niederschreiben mußte. Übrigens konnte Humboldt, wenn er besonderen Wert darauf legte, auch im hohen Alter noch auf horizontalen Linien und durchaus gut leserlich schreiben. Erst in den allerletzten Lebensjahren wurde seine Schrift zu unstetem Gekritzel. ]
2[D irrt.: „neu” ausgelassen. ]
3[Gauß 1832, d. i. das Autorreferat, Anzeige genannt, der Abhandlung „Intensitas vis magneticae ad mensuram absolutam revocata” (Gauß 1833), die durch Einführung des absoluten Maß systems und Ermöglichung absoluter Bestimmung der Intensität mit zuvor nicht erreichbarer Exaktheit einen entscheidenden Fortschritt in der Erforschung des Geomagnetismus darstellte. Die in der Literatur mehrfach anzutreffende Aussage, Humboldt habe die Abhandlung in die französische Sprache übersetzt, beruht auf einem Irrtum (vgl. Biermann 1971a, S. 284-286); Humboldt übersetzte nur die genannte Anzeige. Das Erscheinen der Abhandlung war erst für Ostern 1833 vorgesehen, wie Gauß am 24.2.1833 schrieb (Schaefer 1927, S. 405); sie konnte also Humboldt noch gar nicht vorgelegen haben (vgl. Brief 14, 1. Absatz.) ]
4[Von Humboldt oft scherzhaft für Paris benutztes Synonym. ]
5[Bündigkeit, Kürze. ]
6[D irrt.: das ist mein Verdienst (statt „da ist nun mein Verdienst”). ]
7[Arago war Secrétaire perpetuel pour les sciences mathématiques in der Académie des Sciences im Institut de France . ]
8[Humboldt 1829; Humboldt nennt die Zeitschrift nach ihrem Herausgeber. ]
9[Im „Kosmos”, wo Humboldt diese und eine vorhergehende Passage des Aragoschen Briefes abdruckte (Humboldt 1845/62, 4, S. 185), gab er als Ort nicht Paris, sondern Metz an. ]
10[D irrt.: reduisant (statt: „reprenant”). ]
11[D irrt.: certain (statt „contraire”). ]
12[Das hatte Humboldt bereits Ende 1831 Wilhelm Weber mitgeteilt. Dieser Brief (veröffentlicht: Biermann 1971b), der nicht lange nach Webers Berufung nach Göttingen dort eintraf, hat, wie Gauß in dem folgenden Brief 14 bekennt, einen entscheidenden Anstoß für die so fruchtbare Zusammenarbeit von Gauß und Weber gegeben; vgl. Wiederkehr 1964, S. 170-172. ]
13[Gauß dürfte eine theoretische Begründung seiner Streichmethode zur Magnetisierung von Stahlstäben gegeben haben. ]
14[Danach zu urteilen, hat Humboldt vor dem Brief 12 ein weiteres Schreiben mit einer Anlage von Gauß erhalten; siehe die Erläuterung zu den Nrn. 15-18. ]
15[D irrt.: nur (statt: „mir”). ]
16[D irrt.: und (statt „oder”). ]
17[D irrt.: engere (statt „eigene”). ]
18[D irrt.: daran (statt „darin”). ]
19[D irrt: und (statt „oder”). ]
20[Gauß war anderer Ansicht; siehe Brief 14. ]
21[Humboldt 1814/25, 3. ]
22[D irrt.: 45 (statt „15”). ]
23[Gemeint ist die Identität des Kometen vom November 1819 mit dem vom Januar 1743 (Clausen 1833; Biermann 1964a, S. 172). ]
24[Humboldt nannte Asteroiden und Sternschnuppen gern spaßhaft „Taschen-Planeten”; siehe Brief 24 und 31. ]
25[Der sogenannte Äther, der z. B. für die „allmälige Verengung” der Bahn des Enckeschen Kometen verantwortlich gemacht wurde (Humboldt 1845/62, 3, S. 567). ]
26[D irrt.: grosse (statt „grösste”). ]
27[Siehe die Briefe 10 und 11. ]
28[Dämmerungserscheinungen. ]
29[1 Pariser Linie = 2,2558 mm. ]
30[Siehe Anm. 5 zu Brief 2. ]